Demokratie im Bioreaktor

Kalk stabilisiert Belebtschlämme

Belebtschlämme reinigen Abwässer auf biologische Weise. Sie sind Biotope für alle Arten von Kleinstlebewesen und reagieren sensibel auf Störungen. Die Entwicklungen in der Klärtechnologie haben zu einer Minimierung des Sauerstoffeintrags und einer Erhöhung der freien Säuren in Belebungsanlagen geführt und deren Selbstregeneration geschwächt. In einem Praxisversuch wurde der Einfluss dieser Veränderung auf die Arbeit und das Milieu der Kleinstlebewesen und Reinigungsbakterien untersucht. Die Aufgabe: die Reaktion auf die Veränderung nachzuweisen und einen praktikablen Weg aufzuzeigen, in dem das Gleichgewicht von chemisch und biologisch sauberem Wasser erhalten werden kann - zum Nutzen der Gewässer und einer stabilen, anhaltenden Reinigungswirkung der Belebtschlämme. Das Ergebnis bestätigt: durch kontinuierliche Kalkzugaben in Form von Calciumhydroxid werden die freien Säuren gebunden und das biologische System stabilisiert.

Aqua dolce vita

In der freien Natur sorgt saurer Regen für lange Gesichter, im Tafelwasser Kohlensäure für prickelnde Belebung. Daraus folgt, sauer ist nicht gleich sauer, man muss immer Rücksicht auf das Bezugssystem nehmen. Unser Bezugssystem in Kläranlagen ist der beständige, aber qualitativ unterschiedliche Eintrag von Schmutzwasser, das mit möglichst gleichbleibender Qualität gereinigt werden soll. Nun bereitet das Schmutzwasser Probleme bei der optimalen Fahrweise einer Anlage, da in den letzten Jahren die organischen Bestandteile auch aufgrund der Reinhaltungsvorschriften abgenommen haben. Genau das aber hat Auswirkungen auf die Gemeinschaft der Belebtschlammbakterien.

Nichts genaues weiß man nicht

Die Wissenschaft weiß sehr viel über die Entstehung des sauren Regens, wenig aber über die Kohlensäurechemie der Belebungsanlagen - eigentlich unverständlich, ist dieses System doch relativ überschaubar, wenngleich auch nicht so spektakulär darzustellen. Langwierige Forschungsarbeit ist gefordert.

Bei der biologischen Abwasserreinigung besteht durch die Verfahren der Kohlenstoffoxidation, der biologischen Nitrat- und der Phosphatentfernung das Hauptproblem in der Anreicherung des Wassers mit Säuren. Über die Kontrolle der Säurebildung kann ein Praxisversuch des Bundesverbandes der Deutschen Kalkindustrie detailliert Auskunft geben.

Ein ungesunder Cocktail

Die Akkumulierung von freier Kohlensäure im Klärprozess und die damit verbundene Veränderung des pH-Wertes destabilisiert das Abwassermilieu. Die "Aggressivität" der Abwässer kann deshalb zu einer Zunahme von fadenförmigen Bakterien führen. Die gutmütigen Reinigungsbakterien geraten zunehmend in schlechte Gesellschaft. Die saubere Trennung des biologisch gereinigten Abwassers wird immer schwieriger.

Zum Gleichgewicht der Kräfte

Das Problem liegt nicht in der Beschaffenheit des Abwassers, sondern in der kontinuierlichen Reinigungswirkung der Kläranlagen. Hier muss man versuchen, der Kohlensäureakkumulierung durch heterotrophe Bakterien Grenzen zu setzen und den Puffer in die Belebtschlämme selbst einzutragen, also dort für einen soliden Calciumcarbonatgehalt zu sorgen, der als Regler im Kalk-Kohlensäureprozess fungiert.

Saubere Arbeit

Der Einsatz von Kalkprodukten für die Trinkwasseraufbereitung zur Aufhärtung, Enthärtung und zur Einstellung des Kalk-Kohlensäure-Gleichgewichts ist seit Jahrzehnten anerkannte Regel der Technik. Aber man hat sich bisher fast ausschließlich auf das trübe Wasser und weniger auf die Belebtschlämme konzentriert. Nun aber sollte man beginnen, den Schlamm mit Hilfe einer vorsichtigen Fütterung der Reinigungsbakterien aufzupäppeln. Der so aufbereitete Schlamm hält nicht nur das Wasser sauber, sondern kann sich immer wieder stabilisieren und regenerieren und von unerwünschten Fadenbakterien freihalten.

Demokratie im Bioreaktor

Wie in jeder stabilen Gesellschaft braucht es auch in der Biozönose Zeit und Geld, die Störenfriede in die Schranken zu weisen. Allerdings hilft man sich in der Demokratie der Bakterien nicht mit Argumenten, sondern mit veränderten Milieubedingungen. Um zufrieden zu sein, brauchen Reinigungsbakterien möglichst kontinuierlich über 24 Stunden Aufmerksamkeit, sprich Kalkgaben, die in den Bioreaktor eingespeist werden müssen. Wieviel jeweils in welcher Menge eingetragen werden muss - auch darauf hat der Praxistest eine Antwort.

Steuern, Regeln, Messen

Besonders in den Wintermonaten treten die Zunahme von Blähschlämmen und die Probleme mit Fadenbakterien vermehrt auf. Zur Beseitigung dieses Problems haben sich folgende Strategien als wirksam erwiesen:

  • die Steuerung einer Kalkhydratdosierung in den Rücklaufschlamm über die direkte Messung der Säurekapazität in der Belebung;
  • die gezielte Erhöhung des Calciumcarbonatanteils im Belebtschlamm und damit Verringerung des Schlammindexes (Maß für die Abtrennung des gereinigten Abwassers vom Belebtschlamm).

Mit diesen Maßnahmen lässt sich der Schlammindex unter 100 ml/g halten.

Die richtige Dosierung macht's

Der Nutzen langer Testreihen und eine Stabilisierung der Schlämme, so zeigt die Praxis, hängen von einer genauen Dosierung des Kalkhydrateintrags ab. Als geeigneteste Variante hat sich die trockene Dosierung in den meisten kommunalen Kläranlagen etabliert. Sind zudem Dosierstelle und Anlage eng beieinander platziert, ergeben sich weitere Vorteile: einfache, sichere Anlagen- und Regelungstechnik, abgestimmte Vorratshaltung der Kläranlage, direkte Dosierung in die Belebungsstufe bzw. den Rücklaufschlamm. Dabei kann mit einem Einspüldisperser in modernen Anlagen die Suspendierung des Kalkhydrats erfolgen. Die Feindosiertechnik verhindert zudem große pH-Wertsprünge im Klärprozess. Da trockene Kalkprodukte keine weiteren Auflagen des WHG nach sich ziehen und frostsicher sind, spart man Zusatzinvestitionen.

Alles fließt — natürlich!

Auf der Suche nach einem natürlichen Gleichgewicht im Kohlensäurehaushalt der Belebtschlämme, das haben unsere Praxistests bewiesen, spielt Kalk eine Schlüsselrolle. Er ist kein Fremdkörper in der Biozönose, sondern ein natürlicher Inhaltsstoff, dessen minimale Einbringung mit einem maximalen Nutzen an natürlicher Feinregulierung einhergeht. Voraussetzung für einen solchen Stabilisierungsprozess: Der Anlagenbetreiber muss stets eine wachsames Auge auf den ganzheitlichen Prozess der Abwasserreinigung haben. Wir wollen ihn dabei mit unseren Forschungen unterstützen.